In der Geburtsstadt meiner Mutter hat mal ein Mann namens Louis Schild gewohnt. Da, wo die Pforte des alten Hochtiefhauses ist, fast gegenüber vom Aalto-Theater, in der Nähe von Philharmonie und Herrhausen-Haus.

Das sind Orte, die Louis Schild nicht gekannt hat.

Louis Schild kannte: Beim Stadtgarten, in der Nähe vom Hauptbahnhof, möglicherweise auch nahe beim Handelshof und vielleicht auch mit gutem Gang fußläufig zur Synagoge.

Falls Louis Schild religiös war.

Louis Schild wurde 1880 geboren und 1935 im KZ Esterwegen ermordet. Heute ist sein Todestag.

Ich habe von ihm und seiner Geschichte erstmals 2022 in der Ausstellung „Come Out, Essen!“ im Essener Stadtarchiv erfahren, wo ihm auf einer Tafel ein Absatz gewidmet war. Neben dem Text gab es Polizeifotos mit seinem Gesicht.

Louis Schild wurde am 26.08.1935 verhaftet, nachdem ihn ein Nachbar denunziert hatte. Ihm wurde im NS-Vokabular „widernatürliche Unzucht“ unterstellt und obwohl man Louis Schild nichts nachweisen konnte sperrte die Gestapo ihn wochenlang ins Gefängnis, bevor er schon sehr krank ins KZ kam und dort bis zu seiner Ermordung durch den SS-Mann Gustav Sorge erniedrigt und gequält wurde.

Ursprünglich stammte Louis Schild aus Dortmund, weshalb der Arbeitskreis schwul-lesbische Geschichte aus Dortmund ihm vor zehn Jahren ein Videoportrait gewidmet hat:

www.nrwision.de

Ich weiß noch, dass ich damals nach der Ausstellung im Stadtarchiv vom Archiv zu seiner letzten freiwillig gewählten Adresse in der Steinstraße lief und mir gedacht habe, was für ein kleiner Radius das ist. Kommt man vom Archiv, muss man am Hauptbahnhof vorbei und direkt am Hauptbahnhof ist der Handelshof und dort betrieb der ebenfalls schwule und später im KZ ermordete Alfred Quaas einen Treffpunkt für homosexuelle Männer. Biegt man am Hauptbahnhof in die Rellinghauser Straße ein, um zum Hochtiefhaus zu kommen, kommt man an der Adresse einer früheren Schwulenbar vorbei und dort, wo man schließlich die Straße überqueren muss ist der westenergie-Turm. Vor dem wehten damals Regenbogenflaggen, denn es war Pride Month, und geht man nicht über die Straße, sondern biegt in die Gutenbergstraße ein kommt man zu einem Supermarkt, an dessen Tür in den Nullerjahren eine Regenbogenflagge klebte. Außer Alfred Quaas’ Treff im Handelshof hat Louis Schild definitiv nichts davon gekannt. Ob er den Treff gekannt haben könnte ist Spekulation. Man weiß, dass er oft in einem Automatenrestaurant gegessen hat und dort Männer kennenlernte. Wo sich dieses Restraurant befand, weiß ich nicht.

Aber ich dachte damals wie dieser kleiner Radius, es sind vielleicht zwei Kilometer, wenn überhaupt, doch schon immer ein queerer Ort war.

Manchmal, wenn ich heute in der Stadt bin, gehe ich nach wie vor zu der Stelle mit dem Gedenkstein für Louis Schild und dann frage ich mich, wie dieser 100 Jahre vor mir geborene Mann die Flaggen, die da immer wieder in der Nähe seiner ehemaligen Wohnung hängen finden würde.

Vielleicht fände er sie gut.

Möge ihm die Erde leicht sein.